Zugriff auf Daten – Zugriff auf Macht?

Zugriff auf Daten – Zugriff auf Macht?

Auszug aus „Wenn Maschinen Meinung machen – Schauplätze des Wandels“, Vorwort von Michael Steinbrecher und Günther Rager zum Buch „Wenn Maschinen Meinung machen – Journalismuskrise, Social Bots und der Angriff auf die Demokratie“, Westend-Verlag, 2017.

 

Schauplatz London, Southbank-Centre: 2.900 Besucher in gespannter Erwartung auf Hillary Clinton. »What happened« ist der Titel des Buchs, das sie vorstellen wird. Und viele hier fragen sich genau das. Was ist passiert? Oder besser: Wie konnte das passieren? Eine Frau trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift »I’m with Her«. Andere Besucher demonstrieren für eine 50 Prozent Frauenquote in Parlamenten. Hier im Southbank Centre sind Clintons Fans versammelt. Und die Standing Ovations gleich zu Beginn zeigen: Sie wollen Hillary Clinton trotzig demonstrieren, dass der Kampf nicht umsonst war. Clinton selbst gibt sich zwar zuweilen kämpferisch. Aber überwiegend wirkt sie ernüchtert. Sie habe zum ersten Mal Sorge, dass der neugewählte Präsident und Oberbefehlshaber der US- Streitkräfte selbst zum Sicherheitsrisiko werde. Sie kritisiert die erwiesene Einflussnahme Russlands auf die Wahl. Sie spricht sogar von einem »Cyber-911«. Sie räumt eigene, entscheidende Fehler ein. So habe sie die Stimmung im Land zu spät wahrgenommen. Vor allem aber sei sie der Wahlkampfführung ihres Kontrahenten nicht gewachsen gewesen. Bis zuletzt habe sie auf politische Inhalte setzen wollen. Trumps Stil sei es aber, andere zu beleidigen, unabhängig davon, wer sein jeweiliger Gegner sei. Zudem – und dies sei besonders wichtig gewesen – hätten er und Interessengruppen, die ihn unterstützen, die sozialen Netzwerke genutzt, um gezielt Unwahrheiten, »Fake News«, über sie zu verbreiten. Diese hätten wiederum die entscheidenden Zweifel gesät, die ihr auf der Zielgeraden der Wahl die notwendigen Stimmen gekostet hätten. An diesem Abend ist zu spüren: Clinton hat die letzten Monate genutzt, um für sich Antworten zu finden auf das, was passiert ist. Sie analysiert das, was war. Aber es wird auch deutlich: Sie hat noch keine Antworten darauf, wie man mit den veränderten Rahmenbedingungen eines Wahlkampfs im digitalen Zeitalter umgehen kann. Denn auf alte Wertmaßstäbe und Gewissheiten, auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit, auf Zuverlässigkeit der Informationen wollen Hillary Clinton und die Besucher auch in Zukunft nicht verzichten. Sie beschwört die demokratischen Grundsätze. Und den größten Applaus erhält sie, als sie der Menge zuruft: »Es gibt keine alternativen Fakten!«.

Die Gesellschaft für deutsche Sprache wählte »postfaktisch« zum Wort des Jahres 2016. Und folgte damit der Wahl der Oxford Dictionaries, die »Post Truth« zum Begriff des Jahres gekürt hatten. Beide Begriffe haben bis heute nichts von ihrer Relevanz verloren. Sie könnten allenfalls durch »Fake News« ersetzt werden. Wie relevant sind Fakten noch in der digitalen Welt? Erreichen sie die Menschen überhaupt noch? Oder ist es effektiver, den Menschen eine gute »Story« anzubieten, die sie anspricht? Muss man es mit dem Wahrheitsgehalt dabei noch so genau nehmen? Und falls uns jemand angreift und dies mit Fakten belegen kann, so behaupten wir einfach: Alles vom politischen Gegner gestreute Fake News! Und behaupten das Gegenteil. Aber sind Trump und Fake News wirklich die größte Gefahr für die Demokratie? Konzentrieren wir uns in der Debatte zu sehr auf Politiker? Haben nicht längst ganz andere das Sagen?

George Orwell ging in seiner 1949 veröffentlichten Dystopie 1984 von einem allmächtigen Staat aus, der alles kontrolliert. Liegt die große Gefahr heute eher in der schwer kontrollierbaren privaten Macht der großen Internetkonzerne? Denn nicht beim Staat, sondern bei den Konzernen laufen die Daten der Internetnutzer zunächst auf. Sie haben die Möglichkeit, diese Daten nach ihren Interessen als wirtschaftliches Gut zu nutzen. Und sie können sich oft demokratischer Kontrolle entziehen. Oftmals machen sie bei autoritären Systemen erzwungenermaßen Zugeständnisse. Zumindest in China hat sich der Staat den Zugriff auf Daten gesichert. Dort werden die Gesichter von Menschen, die bei Rot über die Ampel fahren, öffentlich auf Monitoren an den Pranger gestellt. Geplant ist außerdem, das Verhalten aller Bürger einzustufen und bei Wohlverhalten Vergünstigungen zu gewähren. In den meisten Fällen versuchen Konzerne allerdings, dem Staat den Einblick in Kundendaten zu verwehren. Das macht sie allerdings nicht zu reinen Wohltätern – ganz im Gegenteil.

Die »großen Vier« des Internets (Google, Apple, Facebook und Amazon) nehmen jetzt schon immensen Einfluss auf unsere Art zu leben. Sie unterstützen und propagieren die radikale Individualisierung der Kommunikationsteilnehmer. Und in Folge auch die der Gesellschaft. Der Weg dorthin führt über die freiwillige Selbstoptimierung durch die Nutzung aller verfügbaren Daten. Das Ziel ist angeblich die individuelle Freiheit. Diese wird jedoch durch die individuell auswertbaren Daten in ihrem Kernbereich gleichzeitig bedroht. Für die freiwillig zur Verfügung gestellten Informationen erhalten wir die vermeintlich kostenlose Nutzung vieler Anwendungen, die durchaus helfen können, das Leben bequemer zu gestalten. Wir bezahlen aber (ungewollt und oft unbewusst) mit einem immer klarer werdenden Profil unserer Person. Wir machen uns zum »Komplizen des Erkennungsdienstes«, wie Andreas Bernard sein Buch betitelte. Es wird für Intensivnutzer immer schwieriger, die Reste ihrer Privatheit zu schützen. Schlimmer noch: Viele sehen gar kein schützenswertes Interesse mehr an Privatem. Sie können sich offensichtlich weder staatlichen oder gar privaten Missbrauch zur Einschränkung vorstellen. »Ich habe nichts zu verbergen«, lautet die Parole. Vielleicht eine Folge der Liberalisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche und der erfreulichen Tatsache, dass viele von uns in den vergangenen Jahrzehnten nur noch das Leben in einem funktionierenden Rechtsstaat kennengelernt haben. Es geht jedoch um die grundsätzliche Frage, wie eine Gesellschaft sich entwickelt, in der zwar (noch) nicht jeder über jeden alles weiß, aber zumindest einige Konzerne mehr über uns wissen als wir selbst.

Wer weiß heute, was mit unseren Daten sonst noch passiert? Wir reden von der Möglichkeit der Überwachung einzelner Menschen, die alles bisher technisch Mögliche bei weitem in den Schatten stellt. Wie verträgt sich die Aufgabe des Privaten mit unserer kulturellen Prägung? Ist es wirklich erstrebenswert, von möglichst vielen möglichst viel zu wissen? Wie verändern wir uns, wenn wir für eine undurchsichtige Konzernpolitik zunehmend gläsern werden?