Das Nachtcafé als Ort des Gehörtwerdens

Das Nachtcafé als Ort des Gehörtwerdens

Von Nachtcafé-Redaktionsleiter Martin Müller, Auszug aus dem Nachwort zum Nachtcafé-Buch „Familienbande“

Was uns in der Nachtcafé-Redaktion immer mehr auffällt, ist, wie groß das Bedürfnis vieler Menschen ist, gehört zu werden. Insbesondere auch zu den ganz normalen Themen des Lebens: Wie leben wir, was ist uns wichtig, wie gestalten wir Familie, wie funktioniert Beziehung, wie ernähren wir uns, wie gehen wir mit Krankheiten um, wie wohnen wir, wie kommen wir finanziell über die Runden – um nur einige wenige Beispiele zu erwähnen.

Bei einer Lesung mit Michael Steinbrecher zum letzten Nachtcafé-Buch in Mainz erzählte eine Zuschauerin, wie die 52 Jahre ihrer Ehe verlaufen sind. Wir schwer es ihr gefallen war, einen Mann zu heiraten, den sie eigentlich gar nicht gut kannte und der ihr erst im Laufe der Ehe vertrauter wurde. „Einfach war es nicht“, lautete ihr Fazit. Wir haben im Team lange darüber diskutiert, aus einem nur scheinbar einfachen Grund: Für jeden Menschen ist sein Leben etwas ganz Besonderes. Für jeden Menschen ist es wichtig, wie er sein Leben zu jedem Zeitpunkt gestalten kann, welche Möglichkeiten es ihm bietet und wie er diese nutzt – für sich und für andere. Jeder Mensch hat es verdient, wahrgenommen und gehört zu werden.
Im medialen Diskurs, im Fernsehen, in den unzähligen Sendungen und Gesprächsrunden breiten sich viele bekannte Leute aus, und oft glaubt man, er oder sie ist etwas ganz Besonderes, weil er prominent ist oder ein wichtiges Amt bekleidet. (…) Aber oft wird dabei übersehen, dass jeder von uns jeden Tag etwas Besonderes leistet und Aufmerksamkeit und Anerkennung verdient: die Erzieherin, die sich – obwohl ihr Mann im Krankenhaus liegt – darum bemüht, dass die ihr anvertrauten Kinder einen schönen Tag erleben. Der Arzt, der trotz akuter Ehekrise konzentriert und verantwortungsvoll eine wichtige Operation durchführt. Der Busfahrer, der – obwohl ihm gerade die Wohnung gekündigt wurde – seine Fahrgäste Tag für Tag sicher ans Ziel bringt.

Wir alle begegnen unseren Mitmenschen oftmals nur in einer Funktion und den Momenten, in denen wir punktuell aufeinandertreffen: Die unfreundliche Bäckerin, der hilfsbereite Postbote, der nervige Bahnschaffner oder die kompetente Krankenschwester – wir nehmen Menschen meist nur in den Zusammenhängen wahr, in denen wir ihnen begegnen. Doch die unfreundliche Bäckerin hat vielleicht ein krankes Kind zu Hause, macht sich Sorgen und ist deshalb nicht richtig bei der Sache. Das letzte, was sie nun braucht, ist ein anstrengender Kunde, der womöglich etwas von der »Servicewüste Deutschland« faselt.
Für uns im Nachtcafé ist es wichtig, darüber zu sprechen, wie wir unser tägliches Leben gestalten. Wie wir die Schwierigkeiten bewältigen und uns an den schönen Momenten erfreuen. Dabei sind wir keine Ratgebersendung und gewiss kein Psychologieforum.
Das Nachtcafé hat es sich zur Aufgabe gemacht, vor allem mit ganz normalen Menschen über das Leben und seine Herausforderungen zu sprechen. Wir wollen Ihnen ein Forum geben, in dem Sie gehört werden. Wir sind überzeugt, dass das, was Sie täglich an Kraft, Energie und Stärke aufbringen, den Leistungen berühmter Menschen in nichts nachsteht – Ihre Erfahrungen und Erkenntnisse haben eine ebenso große Berechtigung gehört zu werden.