Das Labor für die Welt von morgen - Michael Steinbrecher

Digitalisierung und Sport – ein Blick in die Zukunft unserer Gesellschaft

Warum soll ein Blick auf die Digitalisierungseffekte in der Welt des Sports Rückschlüsse auf die Entwicklung unserer Gesellschaft insgesamt zulassen? Eine berechtige Frage. Galt doch der Sport lange lediglich als „schönste Nebensache der Welt“. Doch wer den Sport und die damit verbundene Industrie im 21. Jahrhundert als gesellschaftlichen Faktor nicht ernst nimmt, übersieht signifikante Entwicklungen, die den Sport für die Forschung, die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt relevant gemacht haben. Der Sport kann als Mikrokosmus dienen. Wenn wir neue Entwicklungen im Sport früh antizipieren und Probleme diagnostizieren, lassen sich Rückschlüsse auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen ziehen.

Im Sport werden viele Effekte der Digitalisierung wie im Brennglas sichtbar, z.B. die Quantifizierung unserer körperlichen Leistung, die Individualisierung von medialen Angeboten, Big-Data-Entscheidungen in Echtzeit und ein veränderter Umgang mit Daten und Daten-Visualisierungen.
Der Sport dient vielen Unternehmen als unverdächtiges, positiv besetztes Übungsfeld für neue Technologien, die – einmal etabliert – Einzug in weitere gesellschaftliche Bereiche erhalten.
Der Sport, seine Wettbewerbsmaximen und die Sportindustrie sind ist in den letzten Jahrzehnten in immer mehr Sphären der Gesellschaft vorgedrungen. Nicht nur seine mediale Präsenz ist gestiegen, sondern auch seine Alltags-, Kultur- und Wirtschaftsrelevanz.

Ist aus der Kulturnation Deutschland also eine Sportnation geworden? Deutschland – von der Kulturnation zur Sportnation? Eine verwegene These? Auf den ersten Blick ja. Aber vergegenwärtigen wir uns Schritt für Schritt die Dimensionen, in denen der Sport seinen Einfluss auf unser Leben ausgeweitet hat.

Die Medien hat der Sport längst erobert. Sport-Rechte gehören heute zu den teuersten und prestigeträchtigsten Investitionen von Medienunternehmen und Rundfunkanstalten. Nach dem Ende der großen Unterhaltungsshows sind Fußball-Spiele bei Welt- und Europameisterschaften die letzten sogenannten „Lagerfeuer der Nation“. Mit den Public Viewings ist zudem in den letzten Jahrzehnten eine neue Event-Kultur entstanden. Aber die Sportisierung der Medien geht deutlich über Sportübertragungen hinaus. In den letzten Jahren haben in Deutschland vor allem Casting-Shows die Unterhaltungsbranche dominiert. Diese Formate sind dramaturgisch auf andere Themen übersetzte Sport-Übertragungen. Ob um den Sieg gekocht, gesungen, getanzt oder gemodelt wird: In jeder Casting-Show geht es um die Qualifikation für den Wettbewerb, um die Hoffnung auf das Weiterkommen, um das Überstehen der Gruppenphase, um den Einzug ins Halbfinale und Finale, um Jubel und Tränen, um live mitleidende Verwandte und Freunde und immer wieder zugespitzt um Sieg und Niederlage.

Doch der Sport ist in den letzten Jahrzehnten deutlich tiefer in die Gesellschaft eingedrungen als es die beschriebene mediale Präsenz ausdrückt. Die Anzahl von Fitness-Clubs hat sich in den letzten Jahrzehnten vervielfacht. Gleiches gilt für den Einsatz von Technologie zum Tracking biometrischer Daten. Was im Spitzensport seit Jahrzehnten etabliert ist, hat sich durch Puls-, Bewegungs- und Schlafintensitätsmessungen in der Welt der Quantified-Self-Bewegung längst auch im Breitensport durchgesetzt. Der Sport ist somit omnipräsent in den Medien, im Alltag, als Fitness- und Gesundheitsmaxime und in seiner Wettbewerbs-Struktur tiefer in unserem Denken verankert als wir es uns bewusstmachen.

Warum nutzen weltweit agierende Konzerne wie SAP ausgerechnet die Welt des Sports, um neue digitale Innovationen auf dem Markt zu verkaufen und für ihre Akzeptanz zu werben? Sport ist Projektionsfläche und gleichzeitig weit mehr als das. Denn der Sport ist auch – in fast allen Bereichen – ein Mikrokosmos, ein Experimentierfeld, ein Labor für die Welt von morgen.

Aus diesem Grund ist das Thema „Sport und Digitalisierung“ in Lehre und Forschung ein integraler Bestandteil meines Lehrstuhls „Fernseh- und Crossmedialer Journalismus“.